Straight Views
Man zählt sie eben doch, die Kilometer. SEHR viele Leute (meistens Männer) sagten, man würde ja locker 100 Kilometer pro Tag fahren. Diese Leute möchte ich mal sehen. Man kann schon 100 Kilometer pro Tag fahren. Aber wenn man sein halbes Körpergewicht unterm Sattel hat, und auch den nächsten und übernächsten Tag halbwegs bequem sitzen will, dann ist das nicht so einfach.
Ich habe keinen Fahrradcomputer. Also weiß ich nie, wie weit ich gefahren bin und wie schnell. Meine Karte gibt Entfernungen zwischen Knotenpunkten an, so dass ich die Etappen ungefähr überschlagen kann. Die durchschnittliche Geschwindigkeit lag stabil bei etwa zehn Kilometern pro Stunde, Pausen und Einkaufen eingerechnet (hinterher war ich ein bißchen schneller). Daraus folgt, dass jede Tagesetappe über 80 Kilometer am nächsten Tag ein Stück zu tief in den Beinen steckt. Geschweige denn, der Wind bläst den ganzen Tag stark von vorn oder die Strecke enthält viele Steigungen.
Zum Glück trägt sich das Gewicht mit der Zeit leichter. Am Anfang habe ich gestöhnt und tatsächlich jeden zweiten Kilometer als Kampf empfunden. Sturmartiger Gegenwind, Steigungen, Regen, müde Beine von schlechtem Schlaf: Hier ist kein Ponyhof.
Irgendwann spürt man nicht mehr, dass das Rad unter einem doppelt so schwer ist wie sonst. Man fährt einfach. Man fährt stetiger und ruhiger, wird gleichmütiger und natürlich auch kräftiger.
Trotzdem denkt man während der Fahrt viel an die zurückgelegte Distanz. Wie weit bin ich jetzt wohl gekommen? Beim nächsten Mal werde ich wohl einen Tachometer ans Rad anschließen.
Meine Route verlief grob gesprochen von Baden-Baden über Strasbourg, Mulhouse, Chalon sur Saone, Taizé, Lyon und Nimes bis nach Armissan bei Narbonne. Ich folgte erst dem Rhein-Rhone-Kanal bis zur Saone. Die fuhr ich nach Süden bis zur Rhone, von der ich anderthalb Tage vor Nimes abbog. Dass da ein Höhenzug im Weg lag, hat sich gelohnt. Die Aussicht war spitzenmäßig. Und bergab hatte ich auch noch Rückwind, so dass ich lange Zeit Höchstgeschwindigkeit fahren konnte.
Der Routenplaner von Google gibt für meine Strecke nach Etappenzielen über Landstraßen exakt 1000 Kilometer an (das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen). Ich bin wahrscheinlich etwa 1.100 Kilometer gefahren - wenn man die Radfahrerumwege, das Verfahren sowie die Strecken innerhalb der Städte mit einrechnet. Das ergibt bei 18 Reisetagen einen Schnitt von 60 Kilometern pro Tag.
Wie kommt der Mythos von den 100 Kilometern zustande? Das muss in etwa so sein wie bei den Kellnern. Die geben grundsätzlich die Höhe ihres durchschnittlichen Trinkgeldes zu hoch an. Die Scottisch Flyboys zum Beispiel erzählten zwar von Tagesetappen über 150 Kilometer. Sie können aber, wenn man Gesamtstrecke und Anzahl ihrer Reisetage (1.300 Meilen in 4,5 Wochen) zusammenbringt, auf keinen Fall mehr als 75 Kilometer im Tagesschnitt zurückgelegt haben. Und das als Gruppe auf schnellen Rennrädern, in der man Windschatten fahren, sich gegenseitig anspornen und Ausrüstung verteilen kann.